Die achte Wächterin

Aus: Meredith McCardle, Die achte Wächterin, Piper 2015, S. 7-14.

Der Mann mit der grünen Krawatte beobachtet mich jetzt schon den ganzen Tag. Komisch. Sowohl die Krawatte als auch das Beobachten. Seine Krawatte ist wirklich grün. Nicht purpurrot oder marineblau, wie bei diesen Typen üblich, sondern grün. Und er hat echt keinen Grund, mich so scharf im Auge zu behalten. Ich bin müde. Verschwitzt. Mein Körper hat die Hölle durchgemacht, und es ist noch nicht vorbei.
Bei der ersten Aufgabe habe ich versagt. Danach hätte der Mann eigentlich aufhören sollen, mich zu beobachten.
Sie haben mich an den Füßen aufgehängt und kopfüber in einen vier Grad kalten Swimmingpool getaucht. Das Schloss an meinen Knöcheln konnte mithilfe eines alphanumerischen Codes geöffnet werden. Ein Poollicht ließ die richtige Kombination per Morsesignal aufblitzen. Ich hatte fünfzehn Sekunden Zeit, den Code zu knacken, bevor sie mich aus dem Wasser zogen. Nach weiteren zehn Sekunden tauchten sie mich wieder unter.
Aber das Wasser war kalt, zu kalt, und als es sich um mich schloss, schienen die Adern in meinem Körper zu explodieren. Es lief mir in die Nase, und ich hustete. Hektisch drehte ich den Kopf hin und her, aber ich konnte das Poollicht nicht einmal finden. Ich wurde hochgezogen, doch bevor ich das überhaupt begriff, waren die zehn Sekunden auch schon wieder um. Sie tauchten mich abermals unter, und diesmal drang mir das Wasser in die Luftröhre. Wieder hustete und würgte ich, atmete noch mehr Wasser ein und spürte Galle in meiner Kehle aufsteigen.
Sobald sie mich wieder hochzogen, gab ich auf.
Die Männer und Frauen, die mich beurteilen sollten, schüttelten die Köpfe. Die meisten packten ihre Sachen und meinten, sie hätten genug gesehen. Aber der Mann mit der grünen Krawatte blickte mich weiterhin unverwandt an, während ich dort bis auf die Knochen durchnässt und zitternd in mein Handtuch gewickelt stand und unter der Last meines Versagens zusammenzubrechen drohte. Nur ein einziges Mal nahm er den Blick von mir, um etwas in sein Moleskin-Notizbuch zu kritzeln.
Er hätte schon viel früher wegsehen müssen. Ich hatte versagt.
Er war der Einzige, der zu meiner zweiten Prüfung auftauchte. Zwei Männer packten mich von hinten und brüllten mich in einer fremden Sprache an. Vielleicht war es Yoruba, aber sicher bin ich mir da nicht. Sie schleuderten mich auf einen Metallstuhl in einer fensterlosen Arrestzelle und gingen. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss.
Ich überlegte nicht, ich atmete nicht. Ich sprang auf, aktivierte die Sprinkleranlage und riss die Plastikhalogenleuchte herunter. Der Alarm heulte los, und eisiges Wasser prasselte im Dunkeln auf mich herab. Aber ich achtete gar nicht darauf. Ich stellte mich neben die Tür, und sobald sie aufging, schlang ich meinem Kidnapper das Elektrokabel um den Hals. Er ergab sich, und ich war nach nicht einmal dreißig Sekunden wieder frei.
Grüne Krawatte nickte, machte sich eine weitere Notiz und ging.
Jetzt stehe ich auf einer Holzplattform, sechs Meter über dem Boden. Meine Augen sind verbunden.
„Umdrehen“, befiehlt eine Stimme.
Ich gehorche, und die Augenbinde verschwindet. Vor mir liegen die Hügel von West-Massachusetts. Die Blätter der Bäume sind orange, gelb und rot, ein wirbelndes Farbmuster, das meine Sicht verschwimmen lässt. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Überhaupt keine. Es ist heller Tag, aber der Himmel ist bedeckt, sodass ich die Position der Sonne nicht bestimmen kann. Es könnte sieben Uhr morgens sein. Oder auch drei Uhr nachmittags. Ich bin jetzt seit mindestens vierundzwanzig Stunden wach.
„Sieh nach unten.“
Ich gehorche. Unter mir erstreckt sich ein Labyrinth aus Sperrholz. Immer wieder werden die Konturen vor meinen Augen unscharf, die Biegungen und Ecken verwirbeln zu einem riesigen Gewirr aus Wänden. Ich schließe die Lider, gönne mir eine kostbare Sekunde der Ruhe. Als ich sie wieder öffne, steht das Labyrinth still. Es misst etwa fünfzig mal fünfzig Meter. Massiv. Ich lokalisiere den Eingang. Dann den Ausgang.
„Noch fünf Sekunden“, sagt der Mann neben mir.
Mein Blick fliegt über den Irrgarten, schießt vom Eingang zum Ausgang und dann wieder zurück, über alle Gabelungen. Es geht sowohl nach links als auch nach rechts und es gibt eine ganze Reihe rechteckiger Spiralen. Aber es ist leicht. Zu leicht.
„Vorbei“, sagt der Mann, und ich habe alles. Einmal nach links. Dreimal nach rechts. Zweimal nach links, dann zweimal nach rechts. Dreimal nach links. Einmal nach rechts zum Ausgang.
Das Herz wird mir schwer. Es ist einfach viel zu simpel.
Ich jogge die Stufen hinunter und zu einer Frau hinüber, die mit einer Stoppuhr in der Hand am Eingang des Labyrinths steht. Sie blickt auf das Clipboard in ihrer Hand, hakt etwas ab und sieht mich dann an.
„Bereit?“, fragt sie tonlos. Keine Spur von Mitgefühl. Typisch.
„Ja“, antworte ich und ziehe meinen Pferdeschwanz straffer. Auch wenn es eigentlich nicht stimmt. In Wahrheit will ich nur noch, dass es endlich vorbei ist.
Ich atme durch und bemerke, dass sich eine Zuschauergruppe gebildet hat. Anscheinend sind alle zurück, die mich nach der ersten Prüfung schon abgeschrieben hatten. Sie sind ja so wankelmütig. Fast hätte ich gelächelt, aber dann fällt mein Blick wieder auf den Mann mit der grünen Krawatte, der mich weiterhin durchdringend anstarrt. Ich werde gemustert, genau geprüft, als wäre ich eine ernst zu nehmende Kandidatin. Mein Magen krampft sich zusammen.
„Los“, befiehlt die Frau und drückt auf die Stoppuhr. Ich hole tief Luft und renne los, in den Irrgarten.
Nach ein paar Schritten hechte ich nach links. Den Gang bis zum Ende hinunter, dann nach rechts. Davor liegen noch zwei weitere Abzweigungen, aber ich laufe an beiden vorüber. Es sind Sackgassen. Dann bin ich an meiner Ecke, biege ab und renne weiter.
Nichts und niemand stellt sich mir in den Weg. Keine Hindernisse. Da kann etwas nicht stimmen. Irgendetwas muss da sein. Wieder biege ich nach rechts ab und …
Erschrocken keuche ich auf, als ein von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleideter Mann vor mir auf den Weg springt. Mit der Linken packt er mich am Kragen, während er mir mit der Rechten ein Messer unters Kinn drückt.
„Hab ich dich“, sagt er.
Ich sehe ihn nicht an. Man sieht seinem Gegner niemals in die Augen. Stattdessen hefte ich den Blick auf sein Sternum und präge mir die Position seiner Hand ein. Dann werfe ich mich nach hinten. Bevor er reagieren kann, packe ich sein rechtes Handgelenk, hake meinen Ellbogen in seinen und drücke seine Messerhand nach unten. Mit dem linken Fuß weiche ich einen Schritt zurück, dann drehe ich mich um die eigene Achse und entwinde ihm die Waffe.
Das alles dauert keine zwei Sekunden.
„Entschuldigung, wie war das gerade?“, frage ich.
Der Mann zieht beide Augenbrauen hoch, hebt ergeben die Hände und joggt zurück zum Eingang des Labyrinths. Fort von mir.
Erst da atme ich wieder. Ich sehe auf meine Hand hinunter. Sie zittert.
Ich nehme das Messer mit, biege zum dritten Mal rechts ab, dann sofort wieder links. Irgendwo muss ich noch einmal nach links. Im Kopf wiederhole ich den richtigen Weg.
Zweimal nach links, dann zweimal nach rechts. Dreimal nach links. Einmal nach rechts zum Ausgang.
Ich muss nach links, aber wann? Da sind so viele Abzweigungen. Eine liegt direkt vor mir, aber die fühlt sich falsch an. Ich glaube, es ist die nächste. Oder die danach? Ich kann mich doch in diesem Ding nicht verirren. Das kann nicht sein. Konzentrier dich!
Ich schließe die Lider und lasse den Irrgarten vor meinem inneren Auge entstehen. Ich muss die zweite nach links nehmen. Glaube ich.
Ich biege ab. Der Weg führt einen langen Sperrholzkorridor hinunter. Das muss richtig sein. Ja, es muss. Einmal nach rechts, dann gleich noch einmal. Ich halte das Messer erhoben, schütze mein Gesicht. Die Hälfte müsste ich geschafft haben. Bald wird bestimmt das nächste Hindernis auftauchen. Ich muss …
Klick.
Ich fahre nach links herum und blicke direkt in die Mündung eines Gewehrs. Eine Frau zielt auf mich. Sie ist etwa so groß wie ich und besteht nur aus Muskeln. Obwohl sie jünger wirkt als ich, weiß ich, dass sie mindestens achtzehn sein muss.
„Lass das Messer fallen“, befiehlt sie mir.
„Oder was? Erschießt du mich?“
„Jep“, bestätigt sie.
Ich betrachte die Waffe. Es ist ein schwarzes Sturmgewehr. Standardausrüstung. Wie das, mit dem sie uns hier trainieren lassen, aber mit einem entscheidenden Unterschied.
„Das ist eine Paintball-Kanone“, stelle ich fest.
Die Frau zuckt nicht mit der Wimper. „Schon mal einen Schuss auf diese kurze Entfernung abbekommen?“
Habe ich. Brennt wie die Hölle und hinterlässt einen blauen Striemen, der sich mindestens zwei Wochen hält.
„Außerdem bist du durchgefallen, wenn ich abdrücke“, fährt sie fort. „Und jetzt runter mit dem Messer.“
Mit einem missmutigen Grollen werfe ich das Messer hinter mich. Klappernd landet es auf dem Sperrholzboden. Dann stehe ich da, lasse die Arme locker herabhängen und warte. Warte auf mein Stichwort.
„Hände hoch“, befiehlt die Frau.
Da ist es auch schon.
Ich reiße die Hände nach oben und packe das Gewehr, stoße es erst hoch und drehe es dann weg von mir. Jemanden zu entwaffnen ist nicht besonders schwer. Man lenkt den Gegner ab, richtet die Waffe auf den Boden, greift den Gegner an und nimmt ihm schließlich die Waffe ab, was üblicherweise ein paar gebrochene Finger zur Folge hat. Schritt eins und zwei habe ich, aber ich glaube nicht, dass ich dieser Frau wirklich ins Gesicht schlagen oder ihr irgendwelche Knochen brechen soll. Also entscheide ich mich für einen einfachen Schlag mit dem Ellbogen, den sie leicht abwehren kann.
Sie lässt das Gewehr los, tritt zurück und hebt die Hände. „Gut gemacht“, sagt sie und nickt in Richtung Ausgang.
Ich hänge mir das Gewehr über die Schulter und renne los. Adrenalin rauscht durch meine Adern. Nach links. Ich bin fast da. Ich nehme die letzte Biegung des Ganges, wieder nach links, und vor mir liegt ein langer Korridor. Auch hier gibt es eine ganze Menge Abzweigungen nach links, aber ich renne an allen vorüber.
Rechts. Zum Ausgang geht es nach rechts.
Dann sehe ich es vor mir. Ich sprinte den Korridor hinunter. Meine Füße trommeln auf das Holz. Ich bin fast da. Nur noch einmal nach rechts, und ich …
Ich reiße die Arme hoch, strecke sie zur Seite und komme schlitternd zum Stehen. Der Boden ist anders. Die Maserung. Die Höhe. Vor mir erstreckt sich ein großes Rechteck, das aus einer anderen Sperrholzplatte geschnitten wurde und das sich etwa einen Zentimeter über den Boden ringsum erhebt. Ich spähe um die Ecke. Da ist der Ausgang, direkt hinter der Biegung, aber das Rechteck ist so groß und an einer so schwierigen Stelle, dass ich nicht darüber springen kann. Ich lasse mich auf alle viere sinken und betrachte die Bodenplatte. Ich wette, das hier ist das letzte Hindernis. Eine Bombe.
Stimmt genau. Es ist ein simpler Druckplattensprengsatz. Wenn man drauftritt, ist man erledigt.
Erleichtert atme ich auf. Mit Druckplattenbomben bin ich gut. Wie die meisten Frauen. An der Seite gibt es zwei Haken, die man einfach nur aufklinken muss. Allerdings darf man die Platte dabei höchstens um einen Zentimeter heben, sonst geht die Ladung hoch. Männer setzen normalerweise zu viel Kraft ein. Irgendein Machomist, der ihnen dann um die Ohren fliegt. Buchstäblich.
Ich löse den ersten Haken und schiebe mich vorsichtig zurück, um an den zweiten zu kommen. Und dann fangen meine Hände an zu zittern. Dort ist der Ausgang, direkt vor mir. Ich kann ihn sehen. Ich wünsche mir so sehr, dass dies alles endlich vorbei ist. Inzwischen bebe ich so heftig, dass meine Zähne klappern. Ich atme tief durch, balle die Hände zu Fäusten und öffne sie wieder. Ich bin so nah dran. Ich kann es schaffen.
Ich hole tief Luft und zwinge meine Hände so gut ich kann zur Ruhe. Meine Finger schließen sich um das Metallhäkchen, und während ich langsam ausatme, drücke ich es hinunter.
Es klemmt.
Nein! Ich lasse los, und das Häkchen schnappt wieder zurück. Jetzt schüttelt es mich am ganzen Körper, von den Knien bis zu den Zähnen. Will dieser Tag denn gar nicht enden? Ich presse den letzten Rest Luft aus meiner Lunge. Reiß dich zusammen. Dann drücke ich das Häkchen wieder hinunter, nur ein bisschen. Ich wackele es ganz leicht hin und her. Es löst sich, und die Platte ist entschärft.
Glaube ich.
Ich stehe auf und springe dreimal auf und ab, um die Blutzirkulation wieder anzuregen. So nahe. Und es gibt nur einen Weg nach draußen. Ich springe auf die Bombe.
Nichts passiert.
Ich atme aus. Geschafft! Sie hätten mich zwar nicht wirklich in die Luft gejagt, aber irgendetwas wäre sicher passiert, wenn ich den Sprengsatz nicht korrekt entschärft hätte.
Nur ein paar Meter vor mir liegt der Ausgang. Ich werfe mich nach vorne, stürze aus dem Irrgarten und lande auf dem Boden. Ein Gong ertönt.