Warum Seepferdchen im Sommer keine Schuhe tragen

Aus: Tracy Brogan, Warum Seepferdchen im Sommer keine Schuhe tragen, AmazonCrossing 2013, S. 7-14.

Meinem Ehemann hatte es schon immer gefallen, in unbekanntes Terrain vorzudringen. Weshalb es mich auch nicht sonderlich überraschte, ihn bei einer Büroparty dabei zu erwischen, wie er mit der Hand das Gebiet unter dem Rock einer albern kichernden Rothaarigen erkundete. Von seiner Gürtelschnalle baumelte ein Mistelzweig, dabei war nicht einmal Weihnachten. Plötzlich hatten acht Jahre banges Zweifeln ein Ende und ich hatte definitiv eine Antwort darauf, ob ich nun intuitiv oder paranoid war. Richard betrog mich und ich konnte nicht länger die Augen davor verschließen.
Ich hätte ihn wohl schon viel früher verlassen sollen, aber ich war blind und dumm gewesen vor Liebe und außerdem hielt meine Mutter nichts von Scheidungen, obwohl sie selbst eine hinter sich hatte. Vielleicht machte sie sich auch einfach nur Sorgen und dachte, diese Ehe sei immer noch das Beste, was ich kriegen könnte. Wie sich herausgestellt hatte, war sie eher das Schlimmste.
Genau ein Jahr, sechs Tage und vierzehn Stunden später setzten Richard und ich unsere Unterschriften auf die gestrichelte Linie und unsere Ehe löste sich auf wie das Salz einer Margarita im Mund. Sie hinterließ den bitteren Nachgeschmack von etwas, das süß begonnen, aber sauer geendet hatte.
Die schmutzigen Details unserer Scheidung waren ein gefundenes Fressen für die Lokalpresse von Glenville. Immerhin war Richard der erklärte Lieblingssohn der Stadt und alle wollten sich den saftigsten Happen für die Abendnachrichten sichern. Sein Job als Moderator der Channel-Seven-News machte ihn quasi zum Star dieser Geschichte und schon bald sammelte er eine Schar unterwürfiger Anhänger um sich. Mir dagegen wurde ohne Umschweife die Rolle der Glamour-Hausfrau zugewiesen, die den ganzen Tag nichts anderes tat, als sich die Fingernägel zu lackieren, und die es von Anfang an nur auf sein Geld abgesehen hatte. An den Vorfall mit der Rothaarigen schien sich außer mir irgendwie niemand mehr zu erinnern. Von einem Tag auf den anderen war ich zur Außenseiterin abgestempelt, zur bösen Hexe in der Realityshow meines eigenen Lebens. Schließlich rief meine Tante Dody an und lud mich und die Kinder zu sich nach Michigan ein. Den ganzen Sommer in dem winzigen Nest Bell Harbor zu verbringen war ein Angebot, das ich in diesem Augenblick einfach unmöglich ablehnen konnte.
»Du musst deinen Geist mal gründlich durchschrubben, Sadie«, erklärte mir Dody am Telefon. »Jetzt ist es Zeit, dass du Richards fieses Karma abschüttelst.«
Ich hatte zwar nicht das mindeste Vertrauen in ihre Tarotkarten oder all den engelgeführten Kristallwellenblödsinn, aber ich brauchte dringend ein wenig Erholung. Ich wollte mich vor der Welt verstecken und ihr rosafarbenes Schindelhaus, das hoch oben am Hang eines Hügels mit Blick auf den Michigansee thronte, war der perfekte Ort, um sich auszuruhen, neu anzufangen und sich darüber klar zu werden, was zum Teufel ich mit den nächsten fünfzig Jahren meines Lebens anstellen wollte. Klar, vielleicht lebte ich ja nicht einmal mehr so lange, aber ich konnte es nicht ausstehen, die Dinge dem Zufall zu überlassen.
Also lenkte ich jetzt meinen SUV durch die schmalen, von Ulmen gesäumten Straßen Bell Harbors. Ich kurbelte das Fenster herunter und atmete tief ein. Der Duft von warmem Sand, Sonnenöl und Fliederblüten rief mir sorgenfreie Sommer in Erinnerung, lange bevor ich mir Gedanken über die schädliche Wirkung von UV-Strahlen oder Toxine im Wasser gemacht hatte. Das Zirpen der Grillen verschluckte fast das leise Plätschern der Wellen am nahen Strand.
Was für ein dramatischer Gegensatz zu der flirrenden Hitze und der Straßenkämpfermentalität, die auf den Verkehrsadern Glenvilles herrschten. Bell Harbor schien erstarrt in einer Zeit, die es sonst nirgendwo gegeben hatte, unberührt von der grellen, turbulenten Welt dort draußen. Wie das verwunschene Dorf Brigadoon in diesem Musical. Nur dass die Menschen hier natürlich nicht unvermittelt anfingen zu singen und zu tanzen. Oder vielleicht taten sie es ja doch und ich hatte es nur einfach noch nie bemerkt.
Ich fuhr weiter, vorbei an hellen Häusern mit staksigen weißen Verandas, auf denen die US-amerikanische Flagge wehte. Ein verwahrloster goldbrauner Hund mit rotem Halstuch trabte den Bürgersteig entlang, den Schwanz emporgereckt, als hätte er etwas Wichtiges zu erledigen. Dann bog der Wagen um die letzte Kurve und Dodys Garten flammte in meinem Blickfeld auf. Er war ein wahres Blütenmeer, wie in einem runtergekommenen Gartencenter. Einige der Blumen waren echt, andere aus Seide oder verblasstem Plastik. Azaleenbüsche umwucherten Vogeltränken, Eisenbänke und ein ganzes Heer von Engelsstatuen und Gartenzwergen. Unerwartet begann mein Herz, heftig gegen meine Rippen zu flattern wie ein in einem Glas gefangenes Glühwürmchen.
»Wow! Was für ein Haufen Schrott!«, staunte meine Tochter Paige. Mit ihren sechs Jahren war sie eine wahre Meisterin darin, das Offensichtliche auszusprechen.
»Da sind Trolls!«, fügte der vierjährige Jordan hinzu. »Ein, zwei, dei, vier …«
»Das sind Zwerge, du Doofkopf. Und Trolls sagt man nicht, das ist unhöflich.«
»Doofkopf ist auch unhöflich, Blödi.«
»Das reicht, ihr beiden. Wir sagen zu niemandem Doofkopf oder Blödi«, warf ich ein.
Meine Kinder hatten den Großteil der zweistündigen Fahrt damit verbracht, sich lautstark darüber zu streiten, ob Elfen größer sind als die Zahnfee, ob alle Giraffen gleich viele Flecken haben und wo denn wohl bei Meerjungfrauen, ich zitiere: »das Kackaloch«, ist. Jordan, ganz der Sohn seines Vaters, kann einfach nicht anders, als bei jedem x-beliebigen Thema genau die Gegenmeinung zu vertreten, und mein Kopf schwirrte schon von all dem Gezanke.
Ich parkte den Wagen in Dodys Auffahrt und stellte den Motor ab. Paige stieß die Autotür auf und hopste aus dem Wagen wie Popcorn aus der Mikrowelle, Jordan dicht auf den Fersen. Sie spurteten direkt in das Dickicht der überbordenden Blumenbeete und rannten Slalom um die Skulpturen.
»Passt in dem Gestrüpp auf!«, rief ich. »In dem Unkraut ist bestimmt alles voller Dornen!«
Sie achteten gar nicht auf mich. Heute Abend würde ich ihnen sicher eine ganze Menge Splitter aus den Füßen ziehen dürfen.
Ich stieg aus dem Auto und steuerte die sonnengebleichten Holzstufen an, die zu Dodys Haustür führten. Seit über einem Jahr war ich nicht mehr hier gewesen, trotzdem trat ich ein, ohne vorher anzuklopfen. Das vertrauensvolle Völkchen von Bell Harbor klopfte nicht – und sie verschlossen auch nie ihre Türen. Und sie mochten es, wenn man sie Völkchen nannte. Eigentlich benutzte ich dieses Wort eher selten, aber wenn ich schon den Sommer hier verbringen wollte, konnte ich mich genauso gut gleich anpassen.
Sobald die Sohlen meiner Riemchensandalen den brüchigen Linoleumboden berührten, traf mich das wirre Durcheinander im Hausinneren voll in mein äußerst sensibles Nervensystem. Dieser funkelnde, verstörende Wust raubte mir den Atem. Eine geflochtene Eule starrte mit ihren Perlenaugen quer durch den Raum. Ein lange verwaister Frettchenkäfig barst fast vor staubiger Seidenrosen, die zweifellos an seinen verstorbenen Bewohner erinnern sollten. Porzellanballerinen wetteiferten mit Elvis-Wackelkopffiguren um die Vorherrschaft auf den Wandregalen und über dem steinernen Kamin hing ein Elchkopf mit riesigem Geweih. Eine Baseballkappe der Detroit Tigers baumelte salopp von einem Ohr.
Mir stockte der Atem. Dodys Flohmarktdekor brachte mich immer ganz durcheinander.
Pingeligkeit konnte man ihr nun wirklich nicht vorwerfen. Mir allerdings schon.
»Dody? Hallo?«, rief ich.
Das Klackern von Hundekrallen gab mir eine Sekunde Zeit, mich zu wappnen, bevor mich Faulpelz und Dickmops – beides ungehobelte Riesenköter von undefinierbarer Rasse und mit fragwürdigen Manieren – gegen die Wand warfen und von oben bis unten abschlabberten. Sie verteilten ihren Sabber ebenso bedingungslos wie ihre Liebe. Ich versuchte, sie mir mit einem Knie vom Leib zu halten, aber sie benahmen sich weiter so, als hätte ich die Taschen voller Speck, und zitterten vor Freude und Aufregung.
Ach, wie schön musste es sein, eine so ungezügelte Freude empfinden zu können.
»Dody«, rief ich noch einmal. »Pfeif die Hunde zurück!«
»Sadie? Schatz, bist du das? Na, endlich!«
Meine Tante kam mit wehenden blonden Locken um die Ecke geflitzt und fuchtelte wild mit den Armen durch die Luft. Entweder freute sie sich, mich zu sehen, oder das Haus stand in Flammen. Auf ihrem türkisfarbenen Kimono prangte ein rosarotes Blumenmuster. Geübt schob sie die Hunde mit ihrer massigen Hüfte beiseite und schloss mich in eine anakondagleiche Umarmung.
»Ich dachte schon, du kommst nie an! Wie war die Fahrt?« Wieder wehrte sie eine Hundeattacke mit der Hüfte ab. »Hast du das neue Postamt an der Hauptstraße gesehen? Sind die Wasserspeier nicht toll? Zum Glück musstest du nicht bei Schnee fahren, na ja, es ist ja auch Juni. Faulpelz, runter von meinem Fuß!« Sie schob ihn weg. »Und? Wo sind die Kinder?«
Meine Tante war ein Wirbelsturm in Plüschpantoffeln.
»Sie sind draußen und zählen Gartenzwerge.«
Ihre Augen leuchteten. »Oh, ich kann es gar nicht erwarten, sie zu sehen. Sind sie sehr groß geworden? Natürlich sind sie das.«
Sie zog mich zurück zur Eingangstür und stieß diese mit solcher Wucht auf, dass sie gegen die Hauswand knallte, abprallte und wieder ins Schloss fiel.
Dody schüttelte den Kopf. »Verflixt! Ich wünschte nur, Walter hätte diese Tür noch repariert, bevor er gestorben ist.« Etwas behutsamer drückte sie die Klinke herunter und trat ins helle Sonnenlicht hinaus. Beim Anblick meiner vorlauten Sprösslinge drückte sie sich die Hände gegen die Wangen und rief: »Oh, da sind sie ja! Die Kinder. Sadie, sind sie nicht wunderbar?«
Paige hielt eine Handvoll Grünzeug mitsamt Wurzelballen und Erdklumpen umklammert, während Jordan versuchte, einen Stein von der Größe einer Orange in seine kleine Hosentasche zu zwängen. Als die Hunde freudig auf sie zugejagt kamen, zuckten beide Kinder erschrocken zusammen.
»Faulpelz! Dicki! Benehmt euch!« Dody klatschte in die Hände und die Vierbeiner trollten sich traurig.
»Kinder, sagt eurer Tante Dody Hallo.«
»Sofort kam Paige herübergelaufen. »Tante Dody, ich hab dir einen Blumenstrauß gepflückt!«
»Paige! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nichts aus anderer Leute Gärten reißen?«, schimpfte ich.
»Aber gerade hast du doch gesagt, das ist sowieso alles nur Unkraut!«
Dody warf mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu, dann beugte sie sich vor und strich Paige so vorsichtig über die Wange, als wäre sie eine Seifenblase.
»Pflück ruhig so viele Blumen, wie du willst, Schätzchen. Dafür sind sie ja da.« Dody nahm den improvisierten Strauß entgegen und klopfte die Erdklumpen an ihrem seidenverhüllten Bein ab. »Die sind wunderschön. Und wer ist dieser Riese da drüben?« Dody deutete auf Jordan. »Dein kleiner Bruder kann das jedenfalls nicht sein.«
Jordan zögerte. Er kannte Dody zwar, seit der Scheidung war er jedoch sehr schüchtern.
»Ich bin nicht klein«, grummelte er.
»Natürlich bist du das nicht. Du bist ja fast schon groß genug, um Jasper eins auf die Nase zu geben.«
Die Mundwinkel meines Sohnes zuckten, als er versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.
Jasper war Dodys ältester Sohn und mit seinen ein Meter neunzig mit Abstand der Größte in der Familie. Er hatte gerade seine Ausbildung als Koch abgeschlossen, oder, wie er es nannte, die Akademie für Kochkunst und Hotelfach erfolgreich absolviert.
»Weißt du schon, dass Jasper jetzt im Arno’s arbeitet? Wie ich betonen möchte, das edelste Restaurant in ganz Bell Harbor. Aber das soll er dir selbst erzählen. Jasper!«, trällerte sie über die Schulter.
»Ist er hier?«, fragte ich.
»O ja. Habe ich dir das denn nicht erzählt? Er ist wieder bei mir eingezogen, damit er Geld für ein eigenes Restaurant sparen kann.«
In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken los. Sie hatte es mir nicht erzählt, wie sie sehr wohl wusste. Denn wenn sie es getan hätte, wäre ich vielleicht gar nicht gekommen: Ihr war klar, dass ich mir männerfreie Sommerferien wünschte. Wenn Jasper hier war, würde ich mir das Badezimmer mit seinen Barthaaren und seiner Phobie vorm Im-sitzen-Pinkeln teilen müssen. Er würde dauernd pupsen und es dann auf die Hunde schieben. Und ich konnte nicht ohne BH herumlaufen! Was sollten das denn bitteschön für Ferien sein? Erneut zweifelte ich an diesem Sommerarrangement.
Es war keine leichte Entscheidung gewesen, die Kinder aus ihrem vertrauten Umfeld zu reißen. Jeder ausgedehnte Besuch bei Dody hatte Katastrophenpotenzial. Die meisten kurzen Stippvisiten übrigens auch. Als uns Richard diese Reise dann aber verbieten wollte, war meine Entscheidung gefallen. Die passiv-aggressive Schadenfreude, mit der ich ihm verkündet hatte, er könne mich nicht aufhalten, war es allemal wert, sich mit Jasper herumzuschlagen.
Ich ging zu meinem SUV hinüber und öffnete den vollgestopften Kofferraum. Ich packte grundsätzlich viel zu viel ein und hatte alles mitgenommen, was wir auch nur möglicherweise in diesem Sommer brauchen könnten – und dann noch ein paar Dinge, die wir definitiv nicht brauchen würden. Ich war eben gerne auf alle Eventualitäten vorbereitet. Man weiß ja schließlich nie, ob man nicht einmal irgendwo in der Wildnis verloren geht, und dann können eine Garnrolle und Gummiklebstoff lebensnotwendig werden. Richard hatte sich stets über diese Marotte lustig gemacht, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie viele meiner Anstrengungen seinem ungetrübten Urlaubsvergnügen zugutekamen.
Dody wandte sich wieder an meine Kinder. »Hört mal, ihr Süßen, in der Küche liegen Spielsachen für euch. Das meiste davon sind allerdings alte Sachen von meiner Freundin Anita Parker. Die hat nämlich gerade ihren Speicher ausgeräumt.«
Paige und Jordan juchzten auf und rannten sofort los in Richtung Küche. Ein Wort über Spielsachen – sogar über alte, schrottige vom Speicher irgendeiner Fremden –, und schon vergaß Jordan seine Schüchternheit.
Dann drehte sich Dody wieder zu mir um. »Anitas Vogel ist gestorben. Habe ich das schon erzählt? Eine Tragödie.« Feierlich senkte sie die Stimme. »Von ihrer eigenen Katze gefressen. Kannst du dir das vorstellen?«
»Meinst du den Vogel, der mich früher immer gebissen hat?« Als Kind hatte ich eine Heidenangst vor diesem Vieh.
Dody nickte. »Wahrscheinlich.« Wieder umarmte sie mich. »Oh, ich bin ja so froh, dass du endlich hier bist! Drei Jahre sind einfach zu lange.«
Ich wand mich aus ihrer Umklammerung und griff nach einem der Koffer.
»So lange ist es doch noch gar nicht her, Dody.«
»Papperlapapp! Diese Besuche, die du im Hotel verbracht hast, zählen nicht.« Sie strich mir eine Haarsträhne von der Wange, als wäre ich drei statt dreißig.
»Wir haben nur nicht bei dir gewohnt, weil Richard allergisch gegen die Hunde ist.«
»Quatsch. Er mochte mich einfach nicht.«
Ich stritt es nicht ab. Sie hatte ja recht. Richard fand, sie sei unverschämt und müsse sich in alles einmischen, und außerdem rieche es in ihrem Haus immer nach Kohl und Patschuli. Was es tatsächlich tat.
»Letzte Woche habe ich die Scheidungspapiere unterschrieben«, sagte ich entschieden.
»Wirklich? Gott sei Dank!«
Noch einmal fand ich mich in einer überschwänglichen Umarmung wieder.
»Ich habe ihn auch nicht gemocht, weißt du.« Dody rieb sich die Hände, als wäre die Erinnerung an ihn etwas Schleimiges. »Aber jetzt ist diese Sache ja abgehakt und wir können dir einen Besseren suchen.«
Den nächsten Koffer wuchtete ich so schwungvoll heraus, dass ich Dody beinahe damit umgehauen hätte. »Warum sollte ich denn einen wollen?«
Sie sah so verwirrt aus, als hätte ich gerade ein Stück Schokoladenkuchen abgelehnt. »Weil du doch nicht für immer alleine bleiben kannst, Dummerchen.«
Mit einem vernehmlichen Plumps landete der Koffer auf dem Boden.
»Genau genommen bin ich gerade mal seit fünf Tagen geschieden, Dody. Onkel Walter ist jetzt schon sechs Jahre lang tot und du bist immer noch Single.«
»Aber du wohnst doch jetzt auch schon seit über einem Jahr alleine. Und ich bin ganz gut im Rennen. Tatsächlich habe ich gerade erst einen umwerfenden Mann kennengelernt. Habe ich dir das denn noch gar nicht erzählt? Wir sind uns auf dem Schießplatz begegnet.«
»Auf dem Schießplatz? Was wolltest du denn auf dem Schießplatz?«
»Zielen üben, Dummerchen. Man sollte wirklich keine Waffe haben, wenn man nicht damit umgehen kann.«
Fast hätte ich meine Hand ungebremst in den nächsten Koffer gerammt.
»Damit umgehen? Wann hast du dir denn eine Waffe zugelegt?«
Das klang gar nicht gut. Meiner Tante würde ich guten Gewissens nicht einmal eine Wasserpistole anvertrauen, von scharfer Munition ganz zu schweigen.
»Vor ein paar Wochen. Hier treibt sich ein Stinktier herum, weißt du.«
»Was für ein Stinktier?«
»Ein Stinktier, das ständig unsere Mülltonne durchwühlt. Letzte Woche hat es Faulpelz eine Ladung direkt ins Gesicht gesprüht.«
»Und deshalb willst du es erschießen?«
»Natürlich nicht!« Sie beugte sich in den Kofferraum und griff nach dem kleinsten Köfferchen. »Ich schieße direkt über seinen Kopf und erschrecke diesen Frechdachs so sehr, dass er sich aus dem Staub macht. Er heißt übrigens Harry.«
»Du hast das Stinktier Harry genannt?«
Jetzt sah sie mich an, als hätte ich endgültig den Verstand verloren. »Warum sollte ich ein Stinktier Harry nennen? Das ist doch lächerlich. Der Mann, den ich kennengelernt habe, der heißt Harry. Er ist Zahnarzt und hat wirklich ein schönes Gebiss, muss man schon sagen. Seine Enkelin arbeitet bei Starbuckel.«
»Starbuckel?«
»Ja, diesem Café.«
»Ach, du meinst Starbucks.«
»Genau, das ist es. Ich bin ganz verrückt nach diesen Machos, du nicht?«
»Sie meint Macchiatos«, rief Jasper, der endlich auch aus dem Haus trat. Er umarmte mich kurz und lud sich dann eine ganze Reihe Gepäckstücke auf. »Willkommen im Irrenhaus.«
»Danke.«
Mein Cousin hatte sich seit unserer letzten Begegnung kaum verändert. Er war noch größer geworden und – falls das überhaupt möglich war – noch schlaksiger. Mit seinen blonden Locken und hellblauen Augen war er aber noch immer eine Spitzbubenausgabe meiner Tante. Besonders haarig war er eigentlich nicht, vielleicht würde es mit den Bartstoppeln im Waschbecken also doch nicht so schlimm werden.
»Wie auch immer«, ergriff Dody wieder das Wort. »Harry ist Italiener. Und natürlich hat er auch einen echt italienischen Schnurrbart. Aber weißt du, was das Beste ist?« Sie kicherte mädchenhaft. »Er sieht aus wie dieser Talkmaster, Dr. Phil!«
Echt? Und das war das Beste?
»Den habe ich auch schon mal kennengelernt, weißt du. Dr. Phil, meine ich«, fuhr sie fort, während Jasper und ich mein Gepäck ins Haus schleppten. »Bei einer Aufzeichnung seiner Show. Er hat mir gesagt, mein Schal sei einfach einzigartig. Das war der, den mir Walter in Fort Knox gekauft hat. Du weißt schon, der wie ein riesiger Hundertdollarschein aussieht. Wie auch immer, dieser Dr. Phil ist wirklich der charmanteste Mann, den ich je getroffen habe, auch wenn er mir die ganze Zeit auf den Busen gestarrt hat.« Sie straffte die Schultern. »Walter hat auch immer gesagt, ich hätte einen beeindruckenden Vorbau.«
»Herrgott, Mum«, beschwerte sich Jasper.
»Was denn? Hab ich doch auch.«