The World of Vikings

Aus: Justin Pollard, The World of Vikings, Zauberfeder 2015, S. 13-14

Das Volk, das wir heute Wikinger nennen, stammte aus den skandinavischen Ländern Norwegen, Schweden und Dänemark. Ihre Heimat war ein mannigfaltiges Gebiet, das etwa 800.000 Quadratkilometer umfasste und sich von den fruchtbaren Feldern an der Grenze zu Deutschland bis über den nördlichen Polarkreis hinaus erstreckte. Im Norden war das Land bergig und zerklüftet und im Sommer schien sogar um Mitternacht noch die Sonne. Es war schwer, Nahrungsmittel anzubauen, und die Menschen waren auf den Fischfang und die Jagd angewiesen, um das wenige zu ergänzen, was sie dem Boden abringen konnten. Doch so mager die Felder waren, so reich waren die Berge, die Wälder und die Küste. Sie lieferten Schätze wie Felle, Bernstein und Walrosszähne für den Handel.
Im Süden ermöglichte das nachsichtigere Terrain eine umfangreiche Landwirtschaft, darüber hinaus hatten die Wikinger durch ihre christlichen Nachbarn Zugang zu einem ausgedehnten Handelsnetzwerk, das sich zaghaft durch Russland und den Nahen Osten entlang der Seidenstraße sogar bis nach China erstreckte. Lange bevor die in den Sagas beschriebenen Könige der Meere auf der Bühne Europas erschienen, waren die frühen Wikinger also vermutlich eher Bauern und Händler, keine Piraten und Plünderer.
Zu Beginn des Zeitalters der Wikinger war Skandinavien noch nicht der Bund mehrerer eigenständiger, von Königen regierter Länder, zu dem es gegen Ende jener Epoche kaum dreihundert Jahre später werden sollte. Die Menschen verständigten sich in einer aus unterschiedlichen nordgermanischen Dialekten bestehenden Sprache, die sie die „dänische Zunge“ nannten und die wir heute als Altnordisch bezeichnen. Darüber hinaus teilten sie eine Religion. In diesem heidnischen Land glaubten die Menschen noch an die alten germanischen Götter. Da Skandinavien nie dem Römischen Reich angehörte, hatten die Vorfahren jener Menschen dem Aufstieg und Niedergang Roms nur unbeteiligt zugesehen. Als nach der Konvertierung Konstantins des Großen das gesamte Römische Reich zum Christentum übertrat, blieb Skandinavien von dieser Entwicklung unberührt. In den Wäldern und Seen des Landes lebten noch immer jene Götter, die einst in allen germanischen Ländern Nordeuropas geherrscht hatten und nun in den abgeschiedenen hohen Norden verbannt worden waren.
Da wir über keine zeitgenössischen skandinavischen Quellen verfügen, können wir nur schwer beurteilen, was die Wikinger dazu brachte, ihre gelegentlichen Plünderfahrten zu alljährlichen Kriegszügen auszudehnen. Genauso wenig wissen wir mit Sicherheit, warum später europäische Siedler aus ihnen wurden. Vielleicht gab es für die nordischen und dänischen Kriegsherren in ihrer Heimat, die mehr und mehr unter die Kontrolle einiger weniger mächtiger Familien geriet, einfach keinen Platz mehr. Von einem späteren Reisenden aus Norwegen, der einst an den Hof König Alfreds des Großen kam, wissen wir, dass sein Land nur über sehr wenige landwirtschaftlich nutzbare Gebiete verfügte, die sich nahe der Küste konzentrierten.
Wenn die Bevölkerung wuchs, sahen sich die Schwachen und Abenteuerlustigen also vermutlich dazu gezwungen, ihr Glück an einem anderen Ort zu suchen. Da außerdem die Konflikte zwischen den königlichen Familien Europas zusehends eskalierten, hoffen sie vielleicht nicht nur auf einen finanziellen Gewinn, sondern auch auf die Möglichkeit, neue Königreiche zu erobern.
Gegen Ende des 8. Jahrhunderts stand eines allerdings fest: Die Wikinger waren da.
Ragnar Lodbrok ist der erste Wikinger, der aus den vagen Überlieferungen jener Zeit emporsteigt. Allerdings scheint er ebenso sehr den fabelreichen Seiten der Sagas zu entstammen wie den nüchternen Einträgen der Chroniken jener Zeit. Wer genau Ragnar nun war, ist noch immer nicht erwiesen, was teilweise daran liegt, dass die Schreiber seiner Epoche offenbar ganz erpicht darauf waren, ihn für tot zu erklären. Pflichtschuldig und sorgfältig beschrieben sie sein Ende gleich mehrmals, begleitet von unterschiedlichen Daten und den verschiedensten Umständen.
Laut der dürftigen Überlieferungen tauchte er mehrere Male in England und im Fränkischen Reich auf (jenem Gebiet, das von den Franken beherrscht wurde und aus dem sich das mittelalterliche deutsche Reich und das spätere Frankreich entwickelten). In einem der Berichte stirbt er während einer Belagerung in Paris an der Ruhr. In einem anderen überlebt er, taucht in Schottland und auf den Äußeren Hebriden wieder auf und erreicht schließlich Dublin. Glaubt man einer irischen Überlieferung, so fiel er von der Hand eines Rivalen am Carlingford Lough, doch seiner Saga nach reiste er weiter, erst auf die Insel Anglesey und schließlich nach Northumbria, wo er seinem Erzfeind König Aelle begegnete.
Dass sich jene frühen Piraten zu Volkshelden entwickelten, ist weniger verwunderlich, als es zunächst scheinen mag. Das Kapital, über das die aufstrebenden Wikingerherrscher verfügten, hat auch heute noch Gültigkeit: Ruhm. Um ein großes Heer zu befehligen, brauchte ein Wikingerherrscher Ruhm, der Männer an seine Seite lockte; der sie dazu brachte, ihrem Anführer in Gefahr und vielleicht sogar in den Tod zu folgen. Ruhm, der Furcht in den Herzen seiner Feinde und Rivalen säte. Es waren Ansehen und Ehre, die über Aufstieg und Untergang der skandinavischen Kriegsführer entschieden, und Geschichten über ihre Heldentaten waren unabdingbar für ihren Erfolg. Zweifellos waren diese Erzählungen schon zur Zeit ihrer Entstehung stark übertrieben, und mit jeder Wiedergabe wurden sie ein wenig mehr ausgeschmückt. Zu der Zeit, als die Sagas schließlich niedergeschrieben wurden, waren jene Männer schon zu Helden jenseits jedes Vorstellungsvermögens geworden.
Und Ragnar war ihr Archetypus. Tatsächlich wurden viele seiner Nachfolger als „Die Söhne Ragnars“ bezeichnet, ein Titel, der ebenso oft ein Zeichen von Ehre und Bestreben war, wie er eine genetische Tatsache bekundete. Ein Sohn Ragnars zu sein – und davon gab es viele –, bedeutete, sich von anderen abzuheben, ein Schrecken für die Welt zu sein. Auch heute noch gibt es ein sichtbares Zeugnis ihres Ruhms: eine Runeninschrift in einem Kammergrab in Maes Howe auf der schottischen Orkneyinsel Mainland. Dort werden sie als das beschrieben, „was man wahre Männer nennt“.

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